Mathematik sehen – über Mathematik sprechen

Untersuchungen zur Sprachkompetenz im Mathematikunterricht
durch das Kölner Projekt zur Visualisierung in Mathematik und Mathematikunterricht
an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln

von
Wilhelm S. Peters, 1999

1. Konstruktive Geometrie als Propädeutik formaler mathematischer Strukturen

Die mathematikdidaktische Literatur beklagt eine sich stetig steigernde Vernachlässigung ikonischer Repräsentationsmodi im Mathematikunterricht. Durch diesen Angebotsmangel sind Schüler nicht in der Lage, Problemlösungen über Visualisierungen zu operationalisieren. In der Welt der allgemeinen Begriffe haben Schüler nie gelernt oder allzu schnell vergessen, das konkrete Problem hinter seiner Formalstruktur zu „sehen“ und zu erfassen. Der elementaren Schulmathematik eigentümlich ist jedoch ihre enge Beziehung zur Geometrie. Auch dort, wo die Entwicklung aus dem geometrischen Gebiet in das Arithmetische, Algebraische und Analytische hinüberwächst, bleibt Geometrie immer das Fundament. Über die Vorstellung geometrischer Figuren in der reinen Anschauung (Kant) soll Einsicht geweckt werden in deren Eigenheiten und Gesetzmässigkeiten. Folge der Vernachlässigung ikonischer Repräsentationsmodi bei der Vermittlung von Mathematik ist die stetig wachsende Sprachlosigkeit im Mathematikunterricht. Oft reicht auch die Sprachkompetenz der Lehrerargumentation für die dem Mathematikunterricht gesteckten Ziele nicht aus. Grundsätzlich setzt sich mathematikdidaktische Visualisierung zunächst ab von einem in der Pädagogischen Psychologie vieldeutig verwendeten Anschauungsbegriff, der als didaktisches Prinzip durch seinen undefinierten Gebrauch so fragwürdig geworden ist, dass empfohlen wird, ihn vollends aufzugeben. Dem klassischen Veranschaulichungspostulat gegenüber meint Visualisieren auch nicht die statische Bebilderung, nicht zusätzliche und damit überflüssige Präsentation eines Schemas oder Diagramms, sondern Erschliessung von Informationen, Provokation zur durchstrukturierenden Erfassung von Konstruktions-, Beweis- oder Problemsituationen.

Mathematik wird in Ikonen, in Visionen entdeckt, nicht durch Elementarisieren, sondern durch Visualisieren, nicht durch Absteigen im fachinhaltlichen Niveau, sondern über den Weg des Einblickgebens und Einsichtnehmens in geometrische Konstruktion. Visualisierung bietet sich hier an, die angesprochenen Defizite aufzuarbeiten durch eine Neugewichtung der Sprache im Mathematikunterricht.

Visualisierungen sind in die Absicht gestellt, Grund und Objekt eines Klassengespräches über Mathematik zu werden. Auch bei unterschiedlicher Wahrnehmung der Schüler bleibt die Visualisierungsstruktur des mathematischen Inhaltes koordinierendes Moment des Unterrichtsgespräches. Sie bleibt Bezugspunkt der Argumentation, so wie die mediale Präsentation eines Bildes im Kunstunterricht und gibt dem Unterrichtsgespräch eine gemeinsame Basis, über der in einer gemeinsamen Sprache geredet werden kann. Visualisierung ist der Sprache, speziell der mathematischen Fachsprache, vorläufig und somit ebenfalls den formalen Strukturen.

Visualisierungen sind nicht nur Stütze sondern isomorphe Darstellung der Explikation algebraischer, arithmetischer und analytischer Probleme. Das Geschaute, das Erwogene, das Betrachtete, das Erfahrene, das Eingesehene wird offenbar, evident, augenscheinlich, einleuchtend, da es im Dialog begleitet von geometrischen Ikonen zum Gegenstand einer Vision gemacht wurde. Analogien eröffnen über Visualisierungen und Sprache der Schulmathematik das Eindringen in mathematische Fiktion. Visualisierung klärt nicht

„Aussehen von“ sondern „Wissen um“.

Die Vernachlässigung ikonischer Repräsentationsmodi erwächst aus dem Defizit der Fachdidaktik in der Lehrerausbildung für den Sekundarbereich. Als Spätfolge des Streites zwischen Formalisten und Konstruktivisten in der Grundlagenkrise der Mathematik Anfang des 20. Jahrhunderts werden ikonische Darstellungen als „unwissenschaftlich“ diskreditiert. Folge der Vernachlässigung ikonischer Repräsentationsmodi bei der Vermittlung von Mathematik ist die stetig wachsende Sprachlosigkeit im Mathematik-unterricht bis hin zum ausschliesslichen Gebrauch von Einwortsätzen durch die Schüler.

Dieses unzulängliche Sprachverhalten im Mathematikunterricht verhindert das Zusammenspiel von Ikone und Wort. Der Lehrer begnügt sich mit Ein-Wort-Antworten. Der Schüler verlernt und verliert am mathematischen Inhalt das Sprechen über Mathematik.

Ein Hauptproblem im Mathematikunterricht ist das uneinsichtige Hantieren mit unverstandenen Formalismen, Regeln und Algorithmen, die trainiert und so verfügbar „gemacht“ werden.

Algorithmisches Denken erscheint jedoch nicht als Verfügung über mathematische Inhalte, sondern nur als automatisierte Tätigkeit, die nicht mehr reflektiert wird und daher auch nicht mehr verbalisiert werden muss. Das zentrale Anliegen des Mathematikunterrichts ist aber der Aufbau von Fachkompetenz, die über die Beherrschung von Algorithmen hinausgeht. Visualisierung ist eine didaktische Antwort, in unmittelbarer Nähe des Sichtbarmachens mathematischer Theoreme in der Interpretation von „beweisen“ als δεικυμι (Euklid) der Unterscheidung von Konstruktion und Schlusskette. Durch Sequenzierung von Ikonen mit mathematischem Inhalt in Computer-Animationen können und sollen Begriff-bildungen, Regeleinsicht, Beweiskonstruktionen und Problemlösestrategien wieder der Sprache überantwortet werden.Visualisierung scheint sich nach ersten Erfahrungen im schulpraktischen Unterricht anzubieten, die beklagten Defizite wenigstens teilweise aufzuarbeiten durch einen neuen Umgang mit Sprache im Mathematikunterricht, wenn sie sich neben den Brunerschen enaktiven, ikonischen und symbolischen Darstellungsebenen zu einer eigenständigen didaktischen Darstellungskategorie emanzipiert.

2. Das Kölner Visualisierungsprojekt VisuPro

Visualisierung ist derzeit in vielen Wissenschaftsbereichen ein mit unterschiedlichen Intentionen untersuchtes Phänomen: Medizin und Sportwissenschaft, Biologie, Chemie, und Physik entwickeln für sich unterschiedliche Theorieansätze, spezifische Handlungsmodelle und je für sich geeignete Anwendungsbereiche. So auch die Mathematik und ihre Didaktik.

Das Projekt zur Visualisierung in Mathematik und Mathematikunterricht (VisuPro) an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, versucht Schüler über die Kommentierung von Computer-Visualisierungen aus ihrer Sprachlosigkeit zu entlassen und zum Reden über Mathematik zurückzuführen und zwar durch ein Auslesen mathematischer Rekonstruktionen in geometrisch modellierter Begriffentwicklung, Problemlösung und Beweisführung.

Dabei haben sich folgende Lernziele und Stoffinhalte als Forschungsgegenstände des Projektes herausgebildet:

 

Prozessvisualisierung

Tafel 1: Beispiel einer Prozessvisualisierung durch eine
Ikonensequenz zum Winkelsummen- und Aussenwinkelsatz

Euklids Elemente

Abb. 1: O. Byrne: Euklids Elemente Satz I; XIII

Eigentlich sind Visualisierungsversuche in mathematischen Lehrbüchern nicht neu wenn auch noch immer ungewöhnlich. So hat O. Byrne bereits in seiner 1847 erschienenen Euklidausgabe unter dem Motto: Teach how to think and not what to think! ähnliche Darstellungsversuche gemacht.

Zur Zeit werden im Kölner Visualisierungs-Projekt unter der übergeordneten Thematik „Visualisierung und Sprache im Mathematikunterricht“ die schon erwähnten Möglichkeiten untersucht, wie sich die in der mathematikdidaktischen Literatur beklagten Sprachdefizite im Mathematikunterricht durch Verbalisierung von Beweis-, Konstruktions- und Problemlösesequenzierungen in Computer-Animationen kompensieren lassen: In praktischen Unterrichtseinheiten geht es darum, im Projekt realisierte Visualisierungen von Themenbereichen der Sekundarstufenmathematik durch Schüler kommentieren zu lassen, um so der Spracharmut im Mathematikunterricht entgegenzutreten. Zur Zeit werden eigens dafür konzipierte Unterrichtseinheiten unter Nutzung der zugehörigen Computer-Animationen des VisuPro in der Sekundarstufe I durchgeführt und abgetestet. Im Vordergrund stehen im wesentlichen zwei von ihrer Struktur her sprachanregende Themen:

* Antimathematik in M. C. Eschers Graphiken Belvedere und Wasserfall
(Horizont – Sagittale – Neckerscher Würfel – Tribar – Zeichnung und Bauplan)
* Mathematische Fiktion – wenn Raumanschauung nicht mehr ausreicht
(Konstruktion und Analyse des Hyperwürfels – Analogien zwischen Quadrat, Würfel und Hyperwürfel)

3. Anti-Mathematik und künstlerische Konstruktion

Mathematikunterricht als Mittel, über Proportion, Symmetrie und Perspektive die Nähe von Schönheit, Phantasie und Kreativität in der künstlerischen Konstruktion aufzudecken. Hier definiert sich die Forderung, die artes zu entdecken als ein System von Regeln, Normen und Gesetzen, nach denen man etwas macht. Genau in dieser Absicht hat das Kölner Visualisierungs-Projekt Arbeiten des Graphikers M. C. Escher (1889-1972) benutzt, beispielsweise die Lithographie „Belvedere“ (1958). Dabei geht es nicht um inhaltliche oder kunstgeschichtliche Interpretation, sondern um eine didaktische Rekonstruktion von Eschers Spiel mit Perspektive und Täuschung, mit Zenit und Nadir, mit Symmetrie und Kontrast, in Verschränkung von Fläche und Raum in simultanen und unmöglichen Welten. In der Lithographie „Belvedere“ lässt sich die Nichtachtung mathematischer Gesetzmässigkeiten leicht und mit elementaren Mitteln der Darstellenden Geometrie visualisieren.Verschiedene Sagittalen ober- und unterhalb des Horizontes verletzen die Regeln perspektivisch richtigen Zeichnens. Eine Spiegelung oberhalb des Horizontes an der Mittelparallelen der beiden Teilsagittalen repariert das Spukschloss. Wo die Escher-Graphik mit mathematisch Falschem Fantasie anregt, provoziert die mathematisch korrekte Rekonstruktion künstlerisch nur Langeweile.

 

Belvedere

Abb. 2: M. C. Escher: Belvedere

In Zusammenarbeit mit der Kunstlehrerin wurden unsere Computer-Animationen zu Escher-Graphiken in der 12. Klasse eines Gymnasiums und der 11. Klasse einer Gesamt-schule in zwei Unterrichtseinheiten eingesetzt. Nach einer kunsthistorischen Einordnung der Arbeiten Eschers und der Bereitstellung des notwendigen Wissens aus dem Bereich der Darstellenden Geometrie wurde die entsprechende Computer-Animation mehrmals gezeigt und anschliessend ein gemeinsamer Kommentar erarbeitet, mehrmals überarbeitet und anschliessend, synchron zum Ablauf der Animation, auf Band gesprochen. Für die rekonstruktive Analyse der Lithographie „Belvedere“ lautete der endgültige Text:

Bildbeschreibung:

In der Lithographie „Belvedere“ von M. C. Escher liegt die Längsrichtung des oberen Geschosses in Blickrichtung der Frau, die an der Balustrade lehnt. Die Achse des unteren Stockwerkes verläuft in Blickrichtung des Mannes, der über das Tal schaut. Der Mann mitten auf der Leiter ist nicht in der Lage, zu sagen, ob er innerhalb oder ausserhalb des Gebäudes steht.

 

Fluchtpunkt, Horizont und Sagittale

Abb. 3: Fluchtpunkt, Horizont und Sagittale

Konstruktion:

Wie hat M. C. Escher dieses unmögliche Gebäude konstruiert? Wir zeichnen den Horizont in das Bild ein. Anschliessend versuchen wir, die Sagittale zu errichten. Dabei stellen wir fest: es gibt eine Sagittale unterhalb und eine zweite oberhalb des Horizontes. Dies verletzt die Regeln der Perspektive. Färben wir die Gebäudequader unterhalb und oberhalb des Horizontes verschieden ein, so sehen wir: Die obere Etage ist perspektivisch verschieden ausgerichtet gegenüber dem unteren Stockwerk. Beide Gebäudehälften sind durch Säulen zusammengefügt, wie es nur in der Zeichenebene möglich ist. Im dreidimensionalen Raum hat der „Belvedere“ keine Entsprechung. Kein Baumeister könnte dieses Spukschloss nach M. C. Eschers Zeichnung als Bauplan bauen.

Horizont und Sagittale schneiden sich im Augpunkt

Abb. 4: Horizont und Sagittale schneiden sich im Augpunkt

Spiegeln wir die obere Gebäudehälfte an der Mittelparallelen zwischen den beiden Sagittalen, oder drehen wir die obere Etage um diese Mittelparallele als Achse, kommen entsprechende Quaderteile oberhalb und unterhalb des Horizontes perspektivisch richtig zusammen. Entfernen wir die Einfärbungen, so zeigt sich: Die zwei Sagittalen liegen nun in einer Geraden. Der „Belvedere“ ist nun mathematisch richtig gezeichnet und so auch im dreidimensionalen Raum möglich.

Beurteilung:

Unter künstlerischem Aspekt aber verliert er unser Interesse. Dies zeigen uns blitzartige Hin- und Rückspiegelungen zwischen M. C. Eschers „Belvedere“ und unserer Reparatur.

Als übergeordnetes Lernziel sollte in diesem Schulversuch zusätzlich die Erfahrung vermittelt werden, dass sich zwar jedes Gebilde des dreidimensionalen Raumes in der Zeichenebene darstellen lässt, jedoch nicht jedes in der Zeichenebene dargestellte Objekt seine entsprechende Realisierung im dreidimensionalen Raum findet. Die Schüler antworteten auf die Frage: Zeichnung oder Foto? – Klar, das ist kein Foto – wie soll man sowas bauen !

Für die Schüler ergaben sich im Nebeneffekt eine Reihe von didaktisch nicht vorausgesehener, später aber durchaus erwünschter, Einsichten in die Genese des Dimensions-begriffs. Auch das Erstaunen der Schüler über den Mittelcharakter der Mathematik, sowohl bei der Komposition der Graphik durch M. C. Escher wie bei der didaktischen Rekonstruktion in der kunstinterpretatorischen Analyse, gehörte zur didaktischen Absicht. Sie provo-zierte bei den Schülern über konstruktives Sehen von Bildschirm zu Bildschirm, ein lautes Denken in „ihrer Sprache“ und erleichterte ihnen ein Besprechen ihrer Einsichten in künstlerische Konstruktion und die dabei involvierte Mittelfunktion der Mathematik. Ein von einer Schülerin in die Klasse gerufener Beitrag zum Aspekt der Antimathematik und deren Einsatz durch M. C. Escher lautete: Kunst ist Kunst, wenn man Spass daran hat – es ist doch nicht verboten!

 

Konstruktionsanalyse

Tafel 2: „Belvedere“: Konstruktionsanalyse

4. Über Analogien in die mathematische Fiktion

Verwandt mit diesen Absichten ist der Versuch, den Zusammenhang von Visualisierung und Analogiebildung als Generator didaktisch brauchbarer Vorstellungsbilder nutzbar zu machen, so etwa für ein geometrisch spekulatives Eindringen in die vierte Dimension. Es geht um ein Experiment, durch Analogien die konstruktive Fantasie der Schüler im Sinne des Lernziels Raumanschauung innerhalb der Schulmathematik fachinhaltlich an die Grenze zu bringen. Dabei sollen alle Aspekte, die Raumanschauung definieren (räumliches Orientieren, räumliches Vorstellen, räumliches Denken) als Vermögen gefordert, in eine höhere Dimension gehoben und dort erneut trainiert werden. Ein solcher Schulversuch mit einer Computer-Animation aus unserem Visualisierungs-Projekt wurde mit Schülern der

11. Klasse eines Gymnasiums sowie in der 11. und der 12. Klasse einer Gesamtschule

gemacht. Benutzt wurde dafür eine Graphik-Bildschirmfolge, die ein früher in der Literatur vorgeschlagenes Unterrichtsbeispiel in seinen geometrischen, jedoch nicht formalabstrakten Komponenten umsetzt. Zunächst wurde in diesen Klassen eine Unterrichtseinheit in zwei Phasen von jeweils 60 Minuten gehalten, die mit konventionellen Unterrichtsmedien wie Tafel, Overhead-Projektor und vorgefertigten Folien, die ausschliesslich Zeichnungen aus dem den Animationen des Projektes benutzten. Nach der letzten Phase wurde einem Teil der Schüler die Computer-Visualisierung selbst gezeigt. Diese Schüler sprachen anschließend einen eigenen Kommentar zu der Folge von 72 Einzelbildschirmen und fünf integrierten Kurzanimationen auf Band. Bei der Auswahl der Schüler wurde darauf geachtet, dass Schüler beteiligt waren, die in der Unterrichtseinheit die Diskussion vorantrieben, solche, die voll verstanden und auch Schüler, die dem Unterricht nur mit Mühe gefolgt waren. Zur Überraschung stellte sich heraus, dass gerade die Schüler, die als schwächer einge-schätzt worden waren, oft bessere Kommentierungen abgaben als Schüler, die in der Unterrichtssituation den Analogisierungsprozess vorangetrieben hatten. Schüler mit nichtdeutscher Muttersprache leisteten keinen ausgereifteren Kommentar, wenn sie dafür ihre Muttersprache benutzten, da sie die jeweils notwendige Begrifflichkeit in Deutsch gelernt hatten.

Analogien fordern grundsätzlich Sprache. Analogisieren verlangt die Assoziation von Visionen, von Angeschautem mit dem Sprechen über das Wahrgenommene. Abgesehen von in diesen ersten Untersuchungen aufgetretenen allgemeinen Formulierungsschwächen und Sprechdefiziten, die heute in allen Schularten, Altersstufen und Schulfächern festgestellt werden müssen, ergaben sich Kommentierungen, die mit den beteiligten Schülern in fünf Aspekten optimiert wurden:

Dieses Vorgehen soll hier nun über die benutzten Ikonen nachgezeichnet werden.

4.1 Schrittweise Konstruktion des Hyperwürfels und ihre erste formale Notation

Bewegt sich ein Punkt von 0 um den Einheitsvektor e1, so entsteht die Einheitsstrecke mit ihren Endpunkten (0,0) und (0,1). Bewegt sich die Einheitsstrecke längs e2, so bildet sich mit den Spuren ihrer Endpunkte das Einheitsquadrat aus den Punkten (0,0), (0,1), (1,0) und (1,1). Ausgangslage und Endlage einer weiteren Verschiebung des Quadrates in Richtung e3 ergeben zusammen mit den Spuren der vier Eckpunkte das Schrägbild des Einheits-würfels mit den entsprechenden Koordinaten für die Eckpunkte. Gleichzeitig zeigt sich bei der so vollzogenen Würfelkonstruktion, dass grundsätzlich alle drei Richtungen gleichberechtigt sind, also die Durchnummerierung der Einheitsvektoren willkürlich ist. Rein kombinatorisch wird für eine vierte vom unabhängigen Vektor e4 bestimmte Verschiebung des Würfels in Bezug auf Start- und Endposition sowie die Spuren der acht Ecken ein Hyperwürfel mit der Kantenlänge 1 einsehbar.

Nachstehende Tabelle ist eine erste Formaldefinition der visuell verfolgten Konstruktion des Hypercubus vom sich um den Einheitsvektor e1 bewegenden Punkt bis zur Translation des dreidimensionalen Würfels in Richtung e4. Aus dem enaktiv-ikonischen Vorgehen wird die Konstruktionsvorschrift ausgelesen, verbalisiert und in einer Tabelle symbolisiert, wobei die Betragstriche jeweils die Anzahl der Punkte (P), Strecken (S), Quadrate (Q) und Würfel (W) meinen.

 

Ausgelesene Konstruktionsvorschrift

Tabelle 1: Ausgelesene Konstruktionsvorschrift

Tafel 3: Geometrische Konstruktion des Hyperwürfels

Gegenobjekt

Abb. 5: Gegenobjekt

Wie sich am Schrägbild des Würfels   3 × 2   ihn begrenzende Flächen,
  am Quadrat
  2 × 2   Kanten und
  an Kanten
  1 × 2   Punkte ausmachen lassen,
werden am Schrägbild des Hypercubus   4 × 2   ihn begrenzende Würfel entdeckt.

Acht Würfel im Hyperwürfel

Abb. 6: Acht Würfel im Hyperwürfel

4.2 Schlegel-Diagramme von Würfel und Hyperwürfel

Die Würfelprojektion wird gewonnen, indem die Bildebene parallel zu einer Seitenfläche gelegt wird und das Projektionszentrum über die Mitte dieser Fläche. Die Projektion scheint den Blick in das Innere des Würfels freizugeben: Ecken, Kanten und Flächen lassen sich systematisch abzählen, wobei das das Schlegel-Diagramm umschliessende Quadrat mitgezählt werden muss.

 

Schlegelkonstruktionen>

Abb. 7: Schlegelkonstruktionen für Würfel und Hyperwürfel

Bei der von den Schülern vorgeschlagenen Konstruktion des Schlegel-Diagramms in der zweidimensionalen Zeichenebene muss allerdings berücksichtigt werden, dass das umgebende Quadrat und das Kernquadrat – dreidimensional gesehen – nicht in der gleichen Ebene liegen. Deswegen sind die zugehörigen Translationsvektoren in der zweidimensionalen Zeichenebene nicht gleichlang!

4.3 Gestaltliche Strukturanalyse und ihre Analogien

In der analogen Projektion für den Hyperwürfel lassen sich acht Würfel entdecken:

Dem Kernquadrat   entspricht   der Hyperwürfelkern,
dem umschliessenden Quadrat   entspricht   der umhüllende Würfel,
den Trapezen   entsprechen   die Pyramidenstümpfe.

 

Analogien

Abb. 8: Analogien zwischen Würfel und Hyperwürfel

Die Einsichten lassen sich wieder tabellarisch auflisten. Für die 1. – 3. Dimension sind die Sachverhalte bekannt. Sie stellen sich nun als ein- bis dreidimensionale „Würfel“ dar. Über die Konstruktionsvorschriften aus Tabelle 1 wird die Tabelle 2 überprüft. Der Punkt passt sich als 0-dimensionaler Würfel ein.

 

Gestaltliche Strukturen in den einzelnen Dimensionen

Tabelle 2: Gestaltliche Strukturen in den einzelnen Dimensionen

Die Tabelle kann nun weiter vervollständigt werden! Mit Hilfe der Konstruktionsvorschrift werden die Werte für die 4. Dimension berechnet und am Hyperwürfel-Schrägbild überprüft. Den Schülern machte nun eine rein symbolische Konstruktion für die 5. Dimension keine Schwierigkeiten mehr und das neue Objekt erhielt von den Schülern spontan den Namen Hyper-hyper-Würfel. Ferner wurde für die Schüler in der Tabelle eine Kontrollmöglichkeit sichtbar: Die Anzahl der geometrischen Objekte ergibt sich in jeder Dimension n als n-te Potenz von 3. Mit dieser Prüfsumme S werden alle Objekte ein weiteres Mal kontrolliert. Die Schüler gewinnen eine erstaunliche Einsicht:

Jetzt kann man einen Hyper-hyper-hyper-Würfel konstruieren. Auch einen Hyper-hyper-hyper-hyper-hyper-hyper-Würfel hielten sie jetzt für möglich: Das geht immer so weiter … Sie machten sich einen Spass daraus, mit ihrer Sprache zu spielen, immer weitere Namen zu erfinden: Super-Würfel, Mega-Würfel, Super-mega-Würfel usw.

4.4 n-dimensionale Netze

Weitere Analogien erscheinen bei Visualisierung der beiden reversiblen mentalen Operationen, aus einem (n-1)-dimensionalen Netz mit k Klebestreifen den zugehörigen n-dimensionalen Würfel zusammenzufügen oder diesen durch k geeignete Schnitte in sein zusammenhängendes Netz aufzuklappen.

 

Würfelnetze der 2. und 3. Dimension

Abb. 9: Würfelnetze der 2. und 3. Dimension

 

Hyperwürfel

Tafel 4: Entfaltung des Hyperwürfels in sein dreidimensionales Netz

Ein Quadrat wird durch einen Schnitt in eine Gerade aufklappbar, aufrollbar fanden die Schüler treffender. Um die 14 freien Kanten des Würfelnetzes in der dritten Dimension zu identifizieren, sind 7 (!) Klebestreifen nötig. Analoge Überlegungen zeigen, dass der Hyperwürfel durch 17 Schnitte in sein 3-dimensionales Netz zu einem Polycubus 8. Ordnung aufgeklappt und gegenläufig durch Verklebung von 34 Quadraten zum Achtzell aufgebaut werden kann. Dabei sind die 8 Würfel des Hypercubus ebenso zusammenhängend wie die sechs Quadrate des Würfel-Hexomino.

 

Schlegel-Diagramm

Abb. 10: Schlegel-Diagramm des Würfels und Würfelnetz

Salvador Dali malte 1956 sein Bild Corpus Hypercubicus, in dem er neben dem Körper Christi eine auffällige geometrische Figur in den Mittelpunkt stellte, einen in die dritte Dimension aufgeklappten 4-dimensionalen Würfel. Dies eröffnet Wege zu einem intelektuellen Experiment: Der transzendentale metaphysische Raum, ist der menschlichen Einbildungskraft unzugänglich, wie es auch die 4. Dimension der euklidischen Geometrie ist. Jedoch scheint es möglich, sich ihr über Analogiebildungen zu nähern, wie in der Geometrie die 3. Dimension von der zweiten hergeleitet werden kann.

(Animation der Konstruktion aufrufen).

4.5 Konstruktive Genese des Dimensionsbegriffs

Erfolgreich in besonderer Weise waren die Schüler in Bezug auf die Gewinnung von Ein- sichten in Aspekte des Dimensionsbegriffs. Schon in der ersten Phase der Unterrichtseinheit versuchte eine Schülerin, zwei auf durchscheinendes Papier gezeichnete Würfel zu einem Hyperwürfelschrägbild zu justieren, was ihr auch gelang. Im nächsten Schritt allerdings scheiterte sie und erklärte: Ich habe noch versucht einen 5-dimensionalen Würfel zu konstruieren, aber … ?

Die zu ihrem ersten Versuch analoge Konstruktion, nun zwei Hyperwürfel zu justieren, führte sie zu einer sehr komplexen Struktur, zu einer unübersichtlichen, die sie nicht mehr durchschauen konnte. Daher begnügte sie sich mit der symbolischen Konstruktion, wie sie in Tabelle 1 notiert worden war.

Die konstruktive Sereation:
Punkt – Strecke – Quadrat – Würfel – Hyperwürfel …
wurde von allen Schülern eingesehen, dann zunächst von einem Schüler als didaktische Strategie der Lehrerin erkannt. Mitschülern erklärte er: So hat sie das gewollt! Es geht immer so weiter … ! Einige Mitschüler konnten ihm schon zu diesem Zeitpunkt folgen.

Für die Schüler führten weitere Einsichten zu wesentlichen Aspekten der Genese des Dimensionsbegriffs, so bei den nahezu schon definitorischen und sprachlichen Festlegungen folgender Art:

Würfelschrägbild:   in der 2. Dimension gezeichnetes Bild der 3. Dimension.
Würfelnetz:   wird von der 3. Dimension in die 2. Dimension aufgeklappt.
Hyperwürfelkonstruktion:   in der 2. Dimension Bild der 4. Dimension erzeugen.

Die Schüler unterscheiden:

2-dim. Zeichnung eines dreidimensionalen Würfels,

3-dim. Modell eines dreidimensionalen Würfels,

2-dim. Zeichnung eines vierdimensionalen Würfels,

3-dim. Modell eines vierdimensionalen Würfels,

2-dim. Zeichnung eines dreidimensionalen Hyperwürfelmodells.

Würfelseiten werden in der dreidimensionalen Zeichnung teilweise zu Parallelogrammen verzerrt. Analog sind in der 2-dimensionalen Darstellung des Hyperwürfels einige der acht im Hyper-Würfel auszumachenden Würfel nur als verzerrte Bilder des bekannten Würfelschrägbildes zu erkennen.

Die Schüler forderten von sich aus die Kontrolle der 2- dimensionalen Zeichnung des Schlegel-Diagramms des Hyperwürfels an seinem aufgeklappten 3-dimensionalen Modell, dem Hypercubus, wo ihnen die Identifizierung der beim Wiederaufstieg in die 4. Dimension zu verklebenden Teilwürfelflächen gelang. Verlangt wurde also von den Schülern selbst eine Strategieübertragung analog der von ihnen eingesehenen Arbeit im 3-dimensionalen.

Andererseits zeigten die Sekundarstufenschüler im Gang der Überlegungen während der Unterrichtsreihe eine doch erschreckende Begriffsarmut und Begriffsverwirrung bei elementargeometrischen Bezeichnungen: Die Objektnamen Ecke, Strecke, Gerade, Linie, Kante, Seite, Fläche, Quadrat, Seite, Trapez, Körper und Würfel wurden nicht sachgerecht benutzt, der Name Pyramidenstumpf war ihnen unbekannt. Ferner zeigte sich auch deutlich, dass eine Verbesserung der Sprachkompetenz der Lehrer als Voraussetzung für eine angestrebte Kompensation der Sprachdefizite der Schüler unerlässlich notwendig ist.

5. Visualisierung und Sprache

Dynamische Visualisierungen von Schülern auslesen, kommentieren, beschreiben, verbalisieren zu lassen, wirkt unseren ersten Untersuchungen nach der beklagten Sprachlosigkeit entgegen. Ein Arbeiten und Üben in dieser Richtung erlauben alle Graphik-Animationen des Kölner Visualisierungs-Projekts VisuPro. Die im Projekt visualisierten Sequenzen können in ihrem Ablauf vom Schüler über die Computermause selbst gesteuert und mit eigenen Worten erläutert werden. Der Computer wird zum Experimentiertisch für die Interaktion zwischen Visualisierung, einem Auslesen der Bildschirmfolge und der Versprachlichung der gewonnenen mathematischen Prozesseinsicht in Konstruktion und Beweisführung. Es geht um die didaktische Nutzung einer geometrischen Intuition, die als kognitionspsychologisches Substrat gefordert sein soll. Geometrische Fantasie und Kreativität werden Zugangstor in die Mathematik. Sie sind Konstituens für ein Eindringen in mathematische Gegenstandsbereiche als präsymbolische, nicht kalkülgebundene Argumentation. Geometrische Ikonen werden zum didaktischen Strategievorrat, Mathematikunterricht zur Rekonstruktion fundamentaler mathematischer Ideen.

Die Sprachwissenschaft definiert zehn Funktionen der Sprache, darunter die folgenden: Sprache ist Mittel der Kommunikation, der Darstellung und Erschliessung von Wirklichkeit, ist Hilfe, Welt kognitiv heuristisch, also begrifflich, zu bewältigen. Sprache ist Medium der Imagination und Kreativität, sie hängt mit Wahr-nehmung, dem Für-wahr-nehmen zusammen. Von einem gewissen geistig sprachlichen Niveau ist der wahr-genommene Gegenstandsbereich nicht mehr vom sprachlichen Begriff zu trennen. Jeder Gegenstand wird notwendig durch den ihm zugeordneten Begriff in Form seines Begriffes wahr-genommen: Quadrat oder Karo?!

  Karo

Bild und Sprache gehören engstens zusammen; beide beziehen sich auf Informationen aus der Welt, auch aus der Welt der Mathematik. Je mehr Sprache desto mehr auch Welt der Mathematik. Beide sind Erkenntnisebenen, wobei das Bild, die Ikone, die Visualisierung primär kreativ sind, die Sprache primär kommunikativ ist. Sprache wird durch eine zeitliche Komponente dominiert, Ikonen werden dagegen durch ihren räumlich-simultanen Aspekt bestimmt. Beide können gegenseitig Defizite des jeweils anderen Darstellungsmodus kompensieren. Genau dies wird bei der Versprachlichung einer Visualisierung provoziert:

Die Aufmerksamkeit ist als Einsicht auf die Inhalte der Ikonensequenzierungen gerichtet, über das Für-wahr-genommene wird gesprochen. Visualisierungen sprechen das begrei-fende und einsehende Denken des Schülers an. Es ensteht eine Auseinandersetzung mit dem mathematischen Gehalt des geschauten Theorems.

Erst sind die Bilder, dann kommen die Worte.

 

Anmerkung

Dieser Artikel wurde freundlicherweise zur Verfügung gestellt von der Universität Köln.
Professor Dr. Wilhelm S. Peters ist inzwischen verstorben.
Die Dokumentation seine Projektes Visualisierung in Mathematik und Mathematikunterricht ist im Internet abrufbar unter http://www.uni-koeln.de/ew-fak/Mathe/Projekte/VisuPro/.
(OP 2006)